75 Jahre Grundgesetz – Kein Grund zu Feiern

„Sie gaben uns Zettel zum Wählen, wir gaben die Waffen her
Sie gaben uns ein Versprechen, und wir gaben unser Gewehr
Und wir hörten, die es verstehen, die würden uns helfen nun
Wir sollten an die Arbeit gehen, sie würden das übrige tun
Da ließ ich mich wieder bewegen und hielt, wie’s verlangt wurd’, still
Und dachte, das ist schön von dem Regen, dass er aufwärts fließen will

Heute am 23.05 „feiert“ die Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre “Überwindung” des Faschismus, 75 Jahre Gegenentwurf zur aufstrebenden „autoritären Diktatur“ im Osten. Politiker, aber auch unsere Bildungsfunktionäre übertönen sich gegenseitig mit ihrem Lobgesang für dieses fast heilige Stück Papier, welches gleich durch seinen ersten Satz von der unantastbaren Würde des Menschen ein „Nie wieder Faschismus“ absichern würde.

Komisch nur, dass diese bahnbrechenden Sätze, von manchen auch als Grundrechte gefeiert, immer wieder und auf den ersten Blick vollkommen willkürlich ausgesetzt werden. Außerdem fragen sich junge Menschen erneut, wie denn der Faschismus, wenn er doch eigentlich allein durch dieses Stück Papier schon überwunden zu sein scheint, nun wieder erstarkt. Doch die Sparpolitik und der Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte, sowie die „Krisenbwältigung“ zu Corona, der Energiekrise oder der damit verbundenen Inflation, schaffen einen optimalen Nährboden für Spaltung, Diskriminierung und einen gesellschaftlichen Rechtsruck.

Linksliberale und ihre Liebe zur Trägheit

In der BRD können wir immer wieder linksliberale und vermeintlich linke Gruppen beobachten, die sich in ihrem Kampf gegen den Faschismus stehts auf unsere unbezwingbare, bürgerliche Demokratie und vor allem das Grundgesetz als non plus ultra der Sicherung unserer Grundrechte berufen. Wer davon abweicht ist ein Feind der Demokratie, niemals emanzipatorisch und kratzt ja beinahe schon am Faschismus selbst.

Aber reicht es aus eine liberale Demokratie, die immer mehr faschistische Kräfte, Gesetze und Praktiken hervorbringt, an ihr Grundgesetz zu erinnern? Spätestens mit Forderungen von Linksliberalen und VertreterInnen der bürgerlichen Mitte, man dürfe über Grundrechte nicht verhandeln und schon gar nicht über das Grundgesetz diskutieren, stellen sie, ob aus Unwissenheit oder wegen ihres Klassenstandpunkts der herrschenden Klasse (u.a. verkörpert durch Kokott (SPD) und Kasek (Grüne)) klar, dass sie nicht verstanden haben aus welcher Notwendigkeit sich das Grundgesetz entwickelt hat, insbesondere für wen. Verfechter dieser politischen Idee legen klar offen, dass in aller erster Linie eine gemäßigte bürgerliche Demokratie gewünscht und keinerlei revolutionärer Anspruch vertreten wird, nein das Gegenteil ist der Fall. Sie betteln nach einer minderen Härte der kapitalistischen Realität, sodass immerhin der Schein der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wiederhergestellt wird.

Eine zutiefst konservative und reformistische Art des “Antifaschismus”, deren Entwicklung jedoch kein historischer Zufall ist. Den Kapitalismus vor sich selbst und seinem zerstörerischen Handlanger, dem Faschismus schützen zu wollen, ist Produkt davon, was der deutsche Faschismus vom historischen Antifaschismus übergelassen hat.

Die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt

Um genauer verstehen zu können wie das Grundgesetz, besonders die Grundrechte, in der Geschichte der Befreiung der Arbeiterklasse einzuordnen ist, ist es sinnvoll sich zunächst vor Augen zu führen, in welcher Zeit und unter welchen materiellen Bedingungen der Mensch als freier Bürger, der individuelle Rechte genießt, erkämpft worden ist. Im Zuge der bürgerlichen Revolutionen, z.B. der französischen, bekamen alle Menschen auf dem Papier die gleichen Rechte, sie wurden rechtlich frei.

Dies geschah durch den bewaffneten Kampf des 3. Standes, der von den Privilegien der Adeligen und des Klerus ausgeschlossen war. Der dritte Stand jedoch war in erster Linie durch eben diese Tatsache geeint, in anderer Hinsicht sahen die Lebensrealitäten der Menschen im dritten Stand unterschiedlich aus- in Frankreich befanden sich dort immerhin 98% der Bevölkerung. Den Großteil machten Bauern und Tagelöhner aus, aber zum 3. Stand gehörte auch die aufkommende Bourgeoise. Ihr Zweckbündnis war es, dass zum Sturz der feudalen Ordnung führte und so die volle Entfaltung des Kapitalismus ermöglichte.

Denn die Tendenzen und Möglichkeiten einer zentralisierteren Produktion schlugen sich schon vor den bürgerlichen Revolutionen nieder. Besonders in Manufakturen wurde mit einer vorher nicht gekannten Effizienz produziert. Im Feudalismus waren die Menschen jedoch häufig, durch bestehende Lehensstrukturen, aber auch durch die geringe Stadtbevölkerung, nur begrenzt ausbeutbar. Lange Zeit gehörten die Leibeigenen fest zum Land, auf dem sie arbeiteten und lebten, Verschleiß, Krankheit oder Tod gingen somit auf Kosten der Lehnsherren. Diese veralteten Strukturen, mitsamt ihrer alten herrschenden Klasse, waren kurzgesagt für die aufkeimende, hocheffiziente Wirtschaftsform nicht mehr tragbar.

Gefestigt in der bürgerlichen Ideologie des Liberalismus kamen so erste Forderungen zur Einführung von repräsentativer Demokratie und politischen Rechten, wie dem Wahlrecht für alle (außer Frauen) auf. Während sich Bauern und Tagelöhner für diese lang ersehnten Freiheiten massenhaft opferten, war für die Bourgeoisie die Forderung nach Parlamentarismus und Freiheit von Anfang an ein Mittel zum Zweck gegen den Adel und für einen befreiten Markt. Ein Mittel zur Verteidigung von Eigentum und Koordinierung und Verwaltung von Marktbedingungen. Mittel (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, etc.), die, wenn es nötig ist, modifiziert und abgebaut werden können, um den eigentlichen Zweck zu schützen.

Diese politische Emanzipation, wie Marx sie einordnete, war die Vorbedingung des wichtigsten Produktionsmittels im Kapitalismus, der Arbeitskraft bzw. ihrer ungehinderten Ausbeutung. Durch die politische Emanzipation wurde der Arbeiter doppelt frei. Er wurde frei von Eigentum (im Zuge der Ursprünglichen Akkumulation, der massenhaften Enteignung der Landbevölkerung, die so gewaltvoll in die Städte getrieben wurde) und ebenso politisch frei. Er durfte also kein Besitztum sein, wodurch er sich frei am Arbeitsmarkt anbieten konnte. Diese beiden Grundbedingungen schufen den Arbeiter, wie wir ihn bis heute kennen, der nichts anderes hat als seine Arbeitskraft.

Durch die politische, emanzipatorische Spielart des Liberalismus hatte man nun jedoch die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt erweckt. Diese sah wiederum, dass eine Gleichheit in der Gesellschaft, wie im Liberalismus propagiert, konsequent zu Ende gedacht, unvereinbar mit den von ihm geschaffenen Eigentums- und Produktionsverhältnissen war.

Faschismus und Kapital Hand in Hand

Wie erwähnt war Rechtstaatlichkeit und Demokratie nie Ziel, sondern immer Mittel der herrschenden Klasse, was Modifikation und Abbau eben dieser miteinschloss und einschließt. Somit beinhaltet der Kapitalismus bis heute die eingebaute Option der Gewaltherrschaft. Unter Hitler hat somit kein dummer und aus der Reihe tanzender Verrückter das Dritte Reich angeführt, sondern jemand, der Elemente der kapitalistischen Logik, wie die Reduktion des Menschen auf seine Fähigkeit zu arbeiten, Nationalismus und Sozialdarwinismus auf die Spitze trieb, um die ernsthafte Gefahr einer proletarischen Aneignung der Produktionsmittel abzuwenden.

Leider ist diese Rezeption des Faschismus fast vollständig verschwunden (worden). Während in den ersten Jahrzehnten der Aufklärung der NS-Zeit antikapitalistische Stimmen durchaus ihren Platz im Diskurs hatten, wie beispielsweise Horkheimer mit seinem berühmten Zitat: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, verloren sie mit der Zeit an „Popularität“. Von IG Farben als Betreiber von Monowitz, von Siemens als Betreiber von Ravensbrück, von der HASAG als Betreiber von Leipzig-Schönefeld und Hunderten weiteren, wollte schnell niemand mehr reden, sie wurden größtenteils freigesprochen und bekamen ihr Eigentum zurück. Mittlerweile wird die materielle Grundlage des Faschismus von der Mehrheit der Bevölkerung geleugnet oder ignoriert, z.B. mit Demoparolen wie „Kapitalismus/Nationalismus raus aus den Köpfen“. Faschismus sei in erster Linie eine Ideologie, die dumme Menschen vertreten, die darüber aufgeklärt werden müssen. Ebenso funktioniert diese Logik für linksliberale Kräfte für unsere Grundrechte, auf sie muss nur ernsthaft hingewiesen werden, mit ein wenig Demokratiebildung hier und da.

Diese Verfremdung, also Faschismus oder faschistische Kräfte als etwas Absurdes, außerhalb der liberalen Logik stattfindendes, zu verklären, wie der Historiker Ishay Landa es treffend charakterisiert, verschleiert den Ursprung von Faschismus, als der lange rechte Arm des Eigentums, wenn es in Gefahr gerät.

Reagan, Thatcher, Christian Lindner

In den Verhältnissen, in denen unsere Generation aufgewachsen ist, wurde uns das Bild in den Kopf gesetzt, dass der Liberalismus und somit auch der Kapitalismus trotz offener Widersprüche mit einem Sozialstaat, relativen Freiheiten und Sicherheiten einhergeht, also „die Grundrechte“ zumindest im weiteren Sinne für alle greifen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass viele junge Politisierte nun darauf verweisen, die vom Staat getätigten Einschränkungen einfach wieder aufzuheben. Für uneingeschränkt geltende Grundrechte kann jedoch bei genauer Analyse kein historisches Beispiel angeführt werden. Uns muss daher bewusstwerden, dass diese progressiven Elemente in keinem Fall Bedingung und im weiteren Sinne auch nicht Produkt dieses Stück Papiers oder des Kapitalismus sind. Viel mehr sind es Zugeständnisse an soziale Kämpfe, bzw. Ergebnisse des permanenten Ringens mit dem Realsozialismus.

Erkennen kann man dies besonders gut am Siegeszug des Neoliberalismus. In den 1980ern, der Hochzeit von Thatcher und Reagan, triumphierte die geschichtsrevisionistische Darstellung, der Kapitalismus sei eine dem Faschismus entgegengesetzte Kraft. Dies begünstigte antisoziale Maßnahmen, insbesondere den Abbau von Sozialstaat und staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft. Wenn Christian Lindner heute den Zusammenhang seiner Sparpolitik der schwarzen Null mit dem aufkeimenden Faschismus leugnet, dann steht dies genau in dieser geschichtsrevisionistischen Tradition.

Kein Grund zum Feiern

Wenn Marx das Erkämpfen der bürgerlichen Rechte für die im Feudalismus unterdrückten Klassen als Politische Emanzipation bezeichnet, dann leugnet er nicht, dass dieser Schritt ein großer Fortschritt für die Menschheitsgeschichte war. Er zeigt jedoch klar auf, dass mit dieser Stufe die letzte Stufe der Politischen Emanzipation erreicht ist. Eine allgemein menschliche Emanzipation ist erst mit der Überwindung der jetzigen Verhältnisse möglich. Für uns bedeutet das, dass ein Erzwingen der konsequenten Durchsetzung von “Grundrechten” eine utopische Träumerei ist, die in der historischen Entstehung der Grundrechte nie vorgesehen war. Wenn wir verstehen, dass das Grundgesetz und seine Begründung des deutschen Staates eine Notwendigkeit zum Aufrechterhalten des Klassenfriedens waren und bleiben, haben wir heute nichts zu feiern, aber umso mehr zu tun. Der Kapitalismus, der sich im Zweifel für eine Staatsform entscheidet, die mit ihm vereinbar ist, also den Faschismus, kann niemals unsere zweitbeste Option hinter dem Sozialismus sein. Nur der Sozialismus, als mit dem Faschismus unvereinbare Staatsform, nämlich der Diktatur des Proletariats, kann uns diese Sicherheit gewähren.

Aktuell sind Reaktionäre weltweit am Erstarken, aber auch der Revolutionäre Wiederstand, vor Allem die Jugend wächst. Auch innerhalb der deutschen Linken stehen die Zeichen immer mehr auf Rot, überall sprießen rote Jugendgruppen hervor und langjährige Strukturen bekommen Wellen von Zuwachs. Die Arbeiterklasse rückt zusammen und legt nach Jahrzehnten des Winterschlafs wieder gemeinschaftlich die Lohnarbeit nieder (wie zum Beispiel bei den Bahnstreiks der LVB oder der GDLin den Jahren 2023/24). Deswegen feiern wir heute nicht den Tag des Grundgesetzes, sondern die wachsende Anzahl junger Menschen, die zum Ziel haben den Sozialismus gegen das Grundgesetz durchzusetzen und nicht andersherum.

„Da mag dein Anstreicher streichen, den Riss streicht er uns nicht zu
Einer bleibt und einer muss weichen, entweder ich oder du
Und was immer ich auch noch lerne, das bleibt das Einmaleins
Nichts habe ich jemals gemeinsam mit der Sache des Klassenfeinds
Das Wort wird nicht gefunden, das uns beide jemals vereint
Der Regen fließt von oben nach unten, und Klassenfeind bleibt Klassenfeind“

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