MOCKRIDGES SCHWEIGEN WIRD DIE GEWALT NICHT BEENDEN

Zur Lage von Menschen mit Behinderung

“Es gibt Menschen ohne Beine und Arme, die wirft man in ein Becken – und wer als Letzter ertrinkt, der hat halt gewonnen.” Mit dieser widerwärtigen Aussage über Menschen mit Behinderung machte Luke Mockridge vor einigen Tagen Schlagzeilen. Der öffentliche Aufschrei war groß, Journalisten, Promis und Politiker kämpften in zahlreichen öffentlichen Statements darum, die von ihren Vorrednern zur Schau gestellte Entrüstung über Mockridges Aussagen noch zu übertreffen und der Öffentlichkeit zu versichern, dass derartige Aussagen „bei uns in Deutschland“ eigentlich der dunklen Vergangenheit angehören wurden. Mit den Rechten und den tatsächlichen Lebensumständen von Menschen mit Behinderung hatte dieser Shitstorm herzlich wenig zu tun, vielmehr ging es darum Behindertenfeindlichkeit zum moralischen Vergehen bösartiger Einzelpersonen zu verklären. Nun, eine Woche später, sind den Meinungsmachern auf X und co Menschen mit Behinderung wieder so egal wie zuvor. Tatsächlich geht es Menschen mit Behinderung in Deutschland aber auch dann beschissen, wenn sich gerade kein Frauenschläger in einem Spotify Podcast über sie lustig macht. Die verbale Gewalt, die sich in behindertenfeindlichen Statements wie dem von Mockridge äußert ist alles andere als die Spitze des Eisbergs. Sie ist Ausdruck einer langen Geschichte von Ausgrenzung, Ausbeutung und systematischer Gewalt gegen Menschen mit Behinderung (bis hin zur massenhaften Vernichtung im NS), die sich durch die gesamte deutsche Geschichte bis heute fortsetzt. Und im Vergleich zu dem, was Staat und Kapital diesen Menschen auf ganz praktischer, materieller Ebene Tag für Tag antun, wirkt Mockridges dummes Gelaber schon fast harmlos.

Die Gewalt beginnt für Menschen mit Behinderung schon vor der Geburt, wie das deutsche Abtreibungsrecht zeigt. Schwangerschaftsabbrüche sind in der BRD illegal und nur innerhalb der ersten 12 Wochen strafffrei, doch auch dafür gibt es extrem hohe Hürden in Form von Beratungsgesprächen, ärztlichen Gutachten und ggf. sogar Aussagen bei der Polizei. Stellen Ärzte bei der pränatalen Diagnostik, also den Untersuchungen des Fötus im Bauch der Mutter, jedoch fest, dass das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer schweren Behinderung auf die Welt kommen wird, gilt das als sogenannte medizinische Indikation für eine Abtreibung. Die ärztliche Beratung der Schwangeren sieht in diesen Fällen ganz anders aus, als die gesetzlich erzwungenen Beratungsgespräche für ungewollt schwangere Frauen. Während bei diesen Gesprächen in der Regel alles versucht wird, um die Betroffenen doch noch von einer Abtreibung abzubringen, berichten viele Frauen, deren Fötus eine schwere Behinderung diagnostiziert wurde, vom exakten Gegenteil. Durch den Wegfall der gesetzlichen 12- Wochen- Frist in diesen Fällen ist es gängige Praxis, dass Ärzte und Angehörige noch bis kurz vor der Geburt versuchen der Schwangeren auszureden, dass sie ein schwer behindertes Kind auf die Welt bringt. Natürlich sind diese Überzeugungsversuche nicht als individuelle Fehler der Ärzte zu erklären, sondern als Ausdruck eines kapitalistischen Gesundheitssystems, dass in seiner singulären Ausrichtung auf Profitmaximierung weder die Entscheidungsfreiheit (schwangerer) Frauen* berücksichtigt, noch das Leben von Menschen mit Behinderung achtet.

Verschiedene Anlässe für Schwangerschaftsabbrüche sollten niemals gegeneinander aufgewogen werden, letzten Endes muss jede Frau* das Recht und die praktische Möglichkeiten dafür haben, über ihren Körper und dessen Schwangerschaft uneingeschränkt selbst zu entscheiden Dies ist durch die aktuelle Gesetzeslage jedoch nicht gegeben. Der Staat mischt sich aggressiv in die privatesten Angelegenheiten der Frauen* ein und schreibt ihnen vor, wie sie mit ihrer Schwangerschaft umzugehen haben. Dass er dies ausgerechnet bei Müttern von behinderten Föten verhältnismassig wenig tut und in diesen Fällen kein Interesse daran zeigt, ärztliche Beratungen zu und Durchführungen von Abtreibungen zu kriminalisieren, zeigt überdeutlich, dass seine vermeintlich ethisch begründete „Pro Life“ Haltung die Leben von Menschen mit Behinderung explizit nicht miteinschließt. Der deutsche Staat möchte Frauen eher zumuten gegen ihren Willen ein Kind auszutragen, weil sie nicht rechtzeitig einen Beratungstermin bekommen haben, als ihnen zuzumuten ein schwer behindertes Kind auf die Welt zu bringen.

Nach der Geburt werden die Kinder schon früh vom Rest der Gesellschaft isoliert. Konzepte für inklusive Kindergärten oder Schulbegleitung für Menschen mit Behinderung sind die Ausnahme, zentralisierte Förderschulen die Regel. Wie die Barrierefreiheit und viele weitere Faktoren für ein gelungenes Zusammenleben behinderter und nicht behinderter Menschen sind auch die Probleme mit Bildungssektor seit Jahren bekannt. Die BRD steht international in der Kritik, weil sich nicht einmal im Ansatz diesbezügliche Forderungen der UN- Behindertenrechtskonvention umsetzt. Das liegt nicht daran, dass diese Forderungen unmöglich umzusetzen wären, schon seit Jahrzehnten wird auf der ganzen Welt zum Thema geforscht, ein inklusives Bildungssystem wäre in der Theorie genauso umsetzbar wie barrierefreie Infrastruktur. Doch woran scheitert es dann in der Praxis?

Zahlreiche politische Amtsträger gehörten zu denen, die sich vor einigen Tagen über Mockridges Aussagen empörten und sie alle beeilten sich klarzustellen, dass sie ja schon so viel tun würden und weiter tun müssten, um die Rechte von behinderten Menschen in Deutschland zu stärken. Spricht man sie darauf an, warum sie das nicht einfach umsetzen, statt ewig darüber zu reden, gibt es meist die gleiche Antwort: Das Ganze sei gar nicht so einfach und für groß angelegte Kampagnen, die innerhalb weniger Monate bundesweit Resultate schaffen könnten, fehle das Geld. Es ist die immergleiche Lüge vom fehlenden Geld, die uns aufgetischt wird, sobald es darum geht den Sozialstaat irgendwie noch am Leben zu erhalten. Fakt ist: Wer Geld für eine Europameisterschaft, 100 Milliarden Euro Kriegskredite und Erhöhung der eigenen Abgeordnetendiäten hat, hätte auch Geld, um die Lage von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Das Problem sind nicht fehlende finanzielle Mittel, sondern fehlender Profit. Das Schulsystem zu reformieren, die Innenstädte barrierefrei umzubauen und Wohneinrichtungen ausreichend zu fördern kostet den Staat einiges. Selbstverständlich würde sich das Leben der ca. 8 Millionen schwerbehinderten Menschen in der BRD dadurch deutlich verbessern, aber ihr Glück und ihre Lebensqualität sind nun einmal keine Maßstäbe für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem wie das der BRD. Hier geht es nur um Profit, was profitversprechend ist wird gefördert, Sektoren wie die Alten-oder Behindertenpflege totgespart. Diejenigen, die nicht (mehr) Mehrwerte für das Kapital schaffen können, bleiben dabei im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. Die Massentötungen der NS- Euthanasie haben uns gezeigt, wozu die Reduzierung des Menschen auf seine Fähigkeit Mehrwerte zu produzieren in ihrer extremsten Zuspitzung führt. Unter dem direkten Eindruck der gerade erst beendeten NS- Schreckensherrschaft hatte das 1947 sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm eingesehen und eine Abkehr vom Kapitalismus gefordert, um eine Rückkehr des faschistischen Grauens in Zukunft ausschließen zu können.

Ein gutes Beispiel dafür, wie schnell diese Einsichten in der BRD in Vergessenheit gerieten, weil die Mächtigen in Deutschland wieder auf Profitgier und Wettbewerb bauen wollten, sind die Behindertenwerkstätten. In weiten Teilen der Bevölkerung haben diese einen sehr guten Ruf, sie gelten als progressive Möglichkeit für Menschen mit Behinderung etwas „sinnvolles zur Gesellschaft beizutragen“ (also Kapitalisten in die Taschen zu wirtschaften) und sich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Laut dem Bild, dass viele von diesen Werkstätten haben, sind sie ein nettes Freizeitangebot, bei dem Menschen mit Behinderung in enger Betreuung ein Arbeitsklima genießen, das eher an Bastelstunden erinnert.
Die Realität konnte nicht ferner liegen. Der sogenannte „Zweite Arbeitsmarkt“ in den Werkstätten beschäftigt über 310.000 Angestellte und erwirtschaftet jedes Jahr einen Umsatz von ca. 8 Milliarden Euro (was in etwa dem Umsatz der Drogeriekette Rossmann entspricht). Behindertenwerkstätten leisten billige Zuarbeit für nahezu alle Wirtschaftssektoren, manche Arbeiter werden in der Grünpflege eingesetzt, andere „Werkstätten“ sind Wäschereien für Altenheime oder sogar Zulieferer für die Autoindustrie. Nach der kapitalistischen Profitlogik ist bei diesem Wirtschaftskonzept für alle etwas dabei: Die Werkstätten erhalten pro Person und Jahr ca. 16.000 Euro vom Staat zusätzlich zu den Gewinnen, die sie mit ihren Geschäften machen. Die Arbeiter in den Werkstätten gelten vor dem Gesetz nicht als Arbeitnehmer und haben demzufolge auch keinerlei Arbeitnehmerrechte. Daher liegt der Durchschnittslohn in sächsischen Werkstatten bei 174€ netto für Arbeitszeiten zwischen 35 und 40 Stunden die Woche, es gibt keine legalen Betriebsräte oder sonstige eigenständige Organisierung der Arbeitenden. Das neue Bundesteilhabegesetz legt lediglich die Wahl einer Frauenbeauftragten in jeder Einrichtung fest, um sicherzustellen, dass die Menschen mit Behinderung wenigstens geschlechtergerecht geknechtet werden können. Die Quote der Menschen, die durch die Werkstätten tatsächlich in den eigentlichen Arbeitsmarkt integriert werden, liegt seit Jahren konstant bei unter 1%, die Werkstätten für die Inklusion in den Arbeitsmarkt zu nutzen war also nie wirklich vorgesehen. Diese legale Sklavenarbeit verkauft der Staat dann als seine Lösung zur progressiven Behindertenpolitik und spart sich teure Reformen. Schließlich kann er sich darauf verlassen, dass bereits jetzt, eine Woche nach dem großen Mockridge Shitstorm, Menschen mit Behinderung dem Großteil der Bevölkerung wieder zu egal sind, selbst um sich nur in Social Media- Kommentarspalten für sie einzusetzen.

Eng angebunden an die Werkstätten sind die Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Auch hier macht sich der Profitdruck an allen Ecken und Enden bemerkbar, in erster Linie beim Personal. Heilerziehungspfleger, also die Fachkräfte für die Betreuung und Versorgung von Menschen mit Behinderung, erhalten für ihre 2–3-jährige Ausbildung keine Vergütung. Selbst als fertig ausgebildete Fachkräfte liegt ihr Durchschnittsgehalt in Sachsen bei mickrigen 3478€ brutto im Monat.
Laut Zahlen, die Verdi 2021 veröffentlichte, muss mehr als ein Drittel aller Beschäftigten in der Behindertenhilfe regelmäßig Teildienste schieben. Im Zusammenhang mit den ohnehin extrem knappen Budgets für Personalkosten führt diese hohe Arbeitsbelastung zu einer konstanten Verschärfung des Personalmangels wegen berufsbedingter Krankheit, durch den die Verhältnisse noch weiter verschärft werden. Über 60% der Beschäftigten gehen mindestens einmal pro Jahr auf Arbeit, obwohl sie eigentlich krank sind. Die konstante Überbelastung führt natürlich auch zu einer mangelhaften Versorgung der Bewohner- lediglich ein Fünftel der Beschäftigten in Behindertenwohneinrichtungen hat das Gefühl ausreichend auf deren Bedürfnisse eingehen zu können, 80 Prozent gehen also jeden Tag mit dem Gefühl nach Hause, ihren Bewohnern nicht gerecht geworden zu sein. An Wochenenden und Feiertagen ist es in vielen Häusern der Regelfall, dass eine Angestellte für einen Wohnbereich allein verantwortlich ist, also (je nach Einrichtung) für 10-15 Menschen mit Behinderung und ihre individuellen Bedürfnisse gleichzeitig. Mit Wahrung der Menschenwürde haben diese Verhältnisse rein gar nichts zu tun, das beschreiben viele Beschäftigte selbst so. Es wird das Nötigste getan, damit die Menschen mit Behinderung nicht vorzeitig versterben und ein Erreichen der gesetzlichen Mindestvorgaben im Fall einer Überprüfung zumindest simuliert werden kann. Alles weitere ist nur dann möglich, wenn es sich die Beschäftigten zur persönlichen Aufgabe machen und sich dafür im wahrsten Sinne des Wortes kaputt arbeiten. In der Verdi- Befragung gaben fast 50% an, ernsthaftes Interesse an einem Jobwechsel zu haben.

Diese Verhältnisse werden und wurden immer wieder von Investigativjournalisten und auch Initiativen von Betroffenen selbst an die Öffentlichkeit getragen und sind kein Alleinstellungsmerkmal der Behindertenhilfe: In der Altenpflege z.B. sind Angestellte in der Nachtschicht oft sogar für zwei Wohnbereiche gleichzeitig verantwortlich, also je nach Heim für 20-40 hochbetagte, kranke Menschen. Der Personalmangel ist auch hier kein Produkt der vermeintlichen Faulheit der Jugend, die Zahlen der Auszubildenden in der (Heilerziehungs-) Pflege sind seit Jahren konstant bis steigend. Dieser Mangel ist staatlich gewollt und kalkuliert, denn jede Krise eines kapitalistischen Staates, ob Corona oder Inflationskrise, wird zwangsläufig auf dem Rücken derer ausgetragen, die am wenigsten Profit erwirtschaften.
Dieser Sparzwang im sozialen Sektor hat in den letzten Jahren bedrohliche Züge angenommen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (u.a. AWO, Caritas, Diakonie, etc.) warnt: „Knapp zwei Drittel der Einrichtungen und Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege mussten aufgrund finanzieller Schwierigkeiten in den vergangenen beiden Jahren ihre Angebote einschränken oder ganz einstellen.“ „56 Prozent der Befragten erwarten, dass sie 2025 weitere Angebote und Leistungen zurückfahren müssen. Dabei gaben 22 Prozent an, dass Angebote und Leistungen ganz wegfallen könnten.“ Diese Geldnot ist es, die die Einrichtungen u.a. dazu zwingt mit dem großen Kostenpunkt Fachpersonal am äußersten Limit zu wirtschaften. Angesichts des immer größer werdenden Sparzwangs, der sich mit dem Bundeshaushalt 2025 eher noch verschärfen als lockern wird, bekommt die Formulierung vom totgesparten Sozialsektor einen sehr makabren Beigeschmack. Denn auch wenn es sich in der bürgerlichen Hetz- Propaganda gegen den Sozialstaat und alle, die ihn brauchen, oft so anhört- die Kurzungen treffen keinesfalls irgendwelche luxuriösen Sonderangebote, die sich nur die reiche BRD bisher leisten konnte. Nein, sie treffen Suchthilfeangebote, Wohn- und Integrationsberatungen, Altenheime und nicht zuletzt eben auch die Inklusion und Versorgung von Menschen mit Behinderung. Die Ampelregierung spart also sehr direkt am Wohlbefinden, der Gesundheit und der Lebenszeit von hilfsbedürftigen Menschen und sorgt gleichzeitig mit ihrer Sparpolitik (die sie über die EU und den IWF auch anderen Staaten aufdrückt) und den 100 Milliarden für ihre imperialistische Kriegstreiberei auf der ganzen Welt sehr direkt dafür, dass die Zahl hilfsbedürftiger Menschen in der BRD immer weiter anwächst.

Diese institutionelle Gewalt, die notwendigerweise in jedem Wirtschaftssystem fest verankert ist, dass Profite und Wachstum vor Menschenleben und deren Gesundheit stellt, findet immer wieder auch ihren Ausdruck in individuellen Gewaltakten. An vorderster Front, also in den Alten- oder Behindertenheimen, werden solche Vorfälle unter dem Oberbegriff „Gewalt in der Pflege“ gefasst, als abstraktes Problem viel diskutiert, die konkreten Fälle jedoch totgeschwiegen. Wenn überlastete, überforderte und unterbezahlte Pflegekräfte unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit einer Überzahl an zum Teil vollkommen hilflosen und kognitiv eingeschränkten Personen konfrontiert werden, verschwimmen die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdschutz, Fürsorge, ungeübten Handgriffen und Gewalt beinahe täglich. Gewalt von Pflegenden bzw. Assistierenden an den Menschen in ihrer Obhut kommt aufgrund des Machtgefälles natürlich häufiger vor, der Druck, den die Prekarisierung ihrer Verhältnisse und die Abhängigkeit von überfordertem Personal auf die Empfänger von Pflege- und Hilfsleistungen ausübt, entlädt sich jedoch ebenfalls immer wieder in Form von Gewalt. Laut Verdi- Umfrage erleben 10% der Beschäftigten in der Behindertenhilfe täglich verbale Gewalt gegen sich, über 5% sogar körperliche Gewalt. Die Dunkelziffer liegt noch um einiges höher.

Diese Ereignisse beschränken sich natürlich nicht auf den engen Rahmen der Wohn- und Pflegeeinrichtungen, ableistische Gewalt ist in der BRD (leider) immer noch Alltag. Alltagsassistenten von Menschen, denen man ihre schwere Behinderung offensichtlich anmerkt, können ein Lied von der Fülle an abschätzigen Blicken und verächtlichen Kommentaren singen, denen ihre Klienten täglich ausgesetzt sind. In einem Land, in dem noch vor 80 Jahren v.a. im Rahmen der Aktion T4 Menschen wegen ihrer Behinderung vergast wurden und das seitdem jede Chance zur konsequenten Aufarbeitung dieser Verbrechen, geschweige denn zur Abkehr von ihren Grundlagen in der menschenfeindlichen Profitlogik verpasst hat, kann das auch niemanden ernsthaft überraschen.

Erst im Mai diesen Jahres warfen Faschisten in Mönchengladbach einen Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ durch die Glastür eines Behindertenwohnheims. Aus deutschen Altenheimen machten dieses Jahr gleich mehrere Fälle Schlagzeilen, in denen Kollegen nachts im Heim komplett allein gelassen wurden und per Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst alarmieren mussten, um die sichere Versorgung ihrer Bewohner weiter gewährleisten zu können. Der direkte Zusammenhang mag bis jetzt vielleicht noch keine Schlagzeilen gemacht haben, aber solche Fälle zeigen, dass der Soziale Krieg in Form von immer extremeren Sparmaßnahmen im sozialen Sektor bereits jetzt Menschenleben in Behinderten- und Altenheimen, sowie Krankenhäusern kostet. Mockridges Aussagen sind angesichts dieser Verhältnisse zwar nicht weniger ekelhaft, haben aber neben den sehr konkreten Bedrohungen für Leib und Leben von Menschen mit Behinderung, die der staatlich verordnete Sparzwang und die dadurch direkt begünstigte Zunahme von faschistischen Tendenzen in der Gesellschaft darstellen nur geringere Bedeutung.

In der öffentlichen Empörung über den Fall zeigt sich die gleiche Dynamik, die wie vor einiger Zeit schon rund um ein gewisses Handyvideo aus Sylt erlebt haben: Die treuesten Verfechter unserer herrlichen freiheitlich- demokratischen Grundordnung beweisen wieder einmal, dass zu einem solchen Verfechter nur werden kann, wer die Probleme der arbeitenden Klasse ausschließlich dann persönlich mitbekommt, wenn sie auf Social Media trenden. Rassistisches Rumgegröle gehört in der BRD genauso zum Alltag wie ekelhafte, ableistische Witze. Einen derartigen Aufriss, um die wenigen Fälle zu machen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen, hilft Menschen mit Behinderung jedoch nicht weiter, ganz im Gegenteil. Die aufgeblasene Empörung suggeriert, es handele sich zwar um verachtenswerte Einzelfälle, aber im Großen und Ganzen um Ausnahmen in einem ansonsten antiableistischen, inklusiven System. Letzten Endes werden dadurch gesellschaftlicher Konkurrenzkampf und Profitlogik, die Dynamiken innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die Diskriminierung und Ausschluss von Menschen mit Behinderung jeden Tag weiter verschärfen, indirekt weiter legitimiert. Man spricht sich aus gegen Mockridge, aber schweigt zu Sklavenarbeit in den Werkstätten, zum gesellschaftlichen Ausschluss, zur Gewalt in Wohneinrichtungen- kurz zu all dem, was man von der bequemen Couch zuhause nicht mitbekommt.

Wer sich wirklich für eine Verbesserung der Lebensumstände von Menschen mit Behinderung einsetzen möchte, muss in erster Linie von der Geschichte lernen: Weder in Deutschland noch sonst irgendwo sollte sich die Versorgung von Menschen danach richten, ob sie sich finanziell lohnt oder nicht. Es dürfen niemals wieder die Schwächsten in der Gesellschaft den Großteil der Last dafür tragen, dass der deutsche Imperialismus endlich wieder kriegstüchtig werden will. Wir stehen solidarisch an der Seite der heldenhaften Beschäftigten in der Behindertenhilfe, die jeden Tag übermenschliche Arbeit leisten, um ihren Klienten trotz aller äußeren Umstande die bestmöglichen Lebensumstände zu schaffen und wir erklären uns ebenfalls solidarisch mit unseren Klassengeschwistern mit Behinderung, für die ableistische Sprüche trauriger Alltag sind und nicht nur der aktuelle, heiße Skandal im Social Media- Algorithmus. Wir erleben selbst jeden Tag am eigenen Leib die tödlichen Konkurrenzverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, die dazu führen, dass notwendigerweise unter die Räder gerät, wer aufgrund von Behinderungen nur begrenzt ausbeutbar ist. Ein reformistisches Tauziehen für leichte Verbesserungen, nur um in der nächsten Krise oder mit dem nächsten inkompetenten Gesundheitsminister wieder drei Schritte zurück machen zu müssen, kann nicht unsere Perspektive sein!


Im Kapitalismus wird die menschliche Gesundheit zu einem Produkt, mit dem Pharmakonzerne, Krankenkassen und Eigentümer von Heimen und Kliniken ihre Geschäfte treiben. Solange dass der Fall ist, bleiben die Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen prekär, weil von Marktschwankungen abhängig und bedroht von der Potenz der bürgerlich- liberalen Ordnung in Faschismus umzuschlagen. Sich für Menschen mit Behinderung einzusetzen, bedeutet sich gegen Staat und Kapital zu organisieren und eine Gegenmacht aufzubauen, die das Gesundheitssystem den Händen der Privatwirtschaft entreißt, um in einer sozialistischen Planwirtschaft das Wohlbefinden der Menschen in den Vordergrund stellen zu können und nicht die Profite daran. Es bedeutet aber auch, sich praktisch solidarisch zu zeigen und unsere Klassengeschwister nicht in der Vereinzelung am Rande der Gesellschaft allein zu lassen, sondern den Kampf mit ihnen und nicht nur für sie zu führen. Menschen mit Behinderung verdienen ein Leben in der Mitte unserer Gesellschaft, mit der praktischen Umsetzung dieses Ziels müssen wir in unseren Strukturen schon heute anfangen!

„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ lautet das sozialistische Leistungsprinzip. Pfleger und Assistenten kennen diesen Grundsatz auch ohne Marx studiert zu haben, denn in zahlreichen Abwandlungen findet sich das Prinzip des bedürfnisorientierten Umgangs schon heute in ihren Ausbildungen, kaum jedoch in ihrer Berufspraxis wieder. Es ist an der Zeit zu erkämpfen, dass dieser Grundsatz in der Praxis auch umgesetzt werden kann, ohne ständig mit Verweisen auf fehlendes Personal und Geld abgewehrt zu werden. Denn gerade für den Lebensalltag von Menschen mit Behinderung in Deutschland gilt: was „schon immer so war“, darf auf keinen Fall für immer so bleiben!
Rotfront!

Autor

Schreibe einen Kommentar